Leseerlebnis: “Die Unschärfe der Welt”

Leseerlebnisse von Freunden der Büchergilde Hamburg
Dieses Mal hat Axel Finck für uns die “Unschärfe der Welt” von Iris Wolff gelesen:

“Was für ein schönes Buch, was für eine poetische, zarte Sprache mit vielen Bildern, die beim Lesen entstehen und zum Nachdenken anregen!
Ich kannte die Autorin Iris Wolf nicht, obwohl sie schon mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet ist, aber der Titel hat mich angezogen:
„Die Unschärfe der Welt“! Und das in einer Zeit, die uns dauernd mit Fakten konfrontiert! Ich fing an zu lesen und konnte nicht mehr aufhören.
Worum geht es ? Eigentlich eine Familiengeschichte aus einer Ecke Europas, die mir sehr fremd ist, dem Banat im Westen Rumäniens. Dort auf einem Pfarrhof beginnen die 7 Kapitel, in denen immer eine andere Person der Familie im Mittelpunkt steht. Jedes Kapitel beginnt so, dass man zunächst überrascht wird mit der Lebenswelt einer neuen Figur, bevor sich im Lauf der Erzählung der Zusammenhang herstellt, das ist kunstvoll geschildert und verknüpft. Dabei gibt es Zeitsprünge, in denen es immer wieder um Samuel geht, den Sohn von Florentine und ihrem Mann Hannes, dem Pfarrer, in deren Heimatort das Ganze beginnt. Zeitlich spielt die Handlung in einem langen Abschnitt des letzten Jahrhunderts, man erfährt etwas über die Wirklichkeit im rumänischen Sozialismus, über den Zusammenbruch des Ostblocks, über das Leben der Protagonisten nach der Wende in Deutschland. Politik spielt aber nur am Rand eine Rolle, im Mittelpunkt stehen die Gefühle der handelnden Personen. Und das auf eine für mich beeindruckende Weise, denn die poetischen Bilder, die Iris Wolf oft wählt, drücken mehr aus als nur Sprache. Oft war ich verblüfft von den Formulierungen, musste zweimal lesen, musste nachdenken, nachspüren. Eine Freundin fragte mich nach meinen Eindrücken und das Erste, was mir einfiel, war: Das ist ein Buch mit einer zarten Sprache! Und dabei geht es auch menschliche Tragödien, ein Kind stirbt, Samuel flieht über die Grenze aus dem sozialistischen Land und lässt seine große Liebe zurück. Der Roman hat wenig mehr als 200 Seiten, er ist eine Bereicherung, wenn man Sprache liebt und mit ihr in die Verwicklungen einer Familiengeschichte eintauchen will, die oft überrascht. Beim Ende musste ich länger überlegen: Samuels Tochter Livia beherrscht Zaubertricks mit Karten und die letzten Sätze lauten: „ Samuel sah Stana (d.i. seine Frau) entgegen. Liv aber sah ihren Vater an. Das Publikum wird dort hinsehen, wo der Zauberer hinsieht. Der Blick des Zauberers ist der Blick des Publikums.“ Rätselhaft als Schlusswort eines Romans? Aber ja, auf jeden Fall. Wenn man dieses Buch zuklappt, geht die Beschäftigung damit erst los.”