Von Freunden der Büchergilde Hamburg für uns gelesen: “Daheim”

Leseerlebnisse von FreundInnen der Büchergilde Hamburg. Dieses Mal hat Klaus Volmar für uns “Daheim” von Judith Hermann gelesen und sehr persönlich besprochen:

,,Judith Hermann hat einen neuen Roman geschrieben. Daheim. Eine Erzählung vom Weggehen, Zurückbleiben, von Ängsten und Liebe.

Mit leiser Kraft zieht mich die Erzählerin in ihre Gedankenwelt, unmerklich werde ich selbst zum Voyeur der Voyeurin, die ihr eigenes Leben Tag für Tag beobachtet, kommentiert, wertet, sich erinnert, ohne jemals wirklich verändern zu wollen. Indem sie alles ausspricht, was sie bewegt, ihre Zweifel, ihre Angst, ihre Fragen, ihre Wertungen, macht sie mich zu ihrem verschworenen Vertrauten, schafft sie einen geschützten Raum. Einen safe room. Ein Daheim.

Gefiltert durch die subjektive, erinnernde Wahrnehmung lerne ich Otis kennen, von dem sich die Erzählerin gerade erst getrennt hat, nachdem ihre gemeinsame Tochter Ann ausgezogen war. Getrennt, aber nicht losgelassen. Auch in ihrem neuen Leben am Meer, hinterm Deich, bleibt Otis ihr Vertrauter in Briefen, am Telefon, aber die Entfernung wächst.

Und es durchfährt mich, ich erschrecke und fühle mich ertappt, denn auch Otis ist Sammler, Archivar, Messi. Meine eigenen, meinen Alltag bestimmenden Messianteile sind plötzlich präsent, und ich werde in den Bann ihrer Beschreibung von Otis Gefangenschaft gezogen. Immer wieder lese ich die Seiten, entdecke neue nie gedachte Aspekte.

Ich habe vorher noch nie eine so achtsame, liebevolle Beschreibung eines Messis gelesen und gleichzeitig so intensiv die unausweichliche, zwingende Notwendigkeit der Trennung vom geliebten Partner gespürt. Natürlich konnte sie nicht bleiben, nachdem Ann gegangen war. Und ich, der ich ja nicht Otis bin, sondern einen Kampf führe, bin beschämt über mein Lebensglück.

Die Erzählerin lernt ihre neue Nachbarin Mimi kennen, die einzige in sich ruhende, selbstbewusste, im prallen Leben stehende Lichtfigur dieser Welt, die im selbstgewählten Alleinsein Heimat besitzt. Mimi sagt “wo sind deine Wurzeln. Ich sage, oh, ich fürchte, ich hab keine”.
Entwurzelt und schutzlos ist die Erzählerin wie ihr Bruder, ist ihre Tochter Ann und erst recht Nike, die junge Frau, in die ihr Bruder unglücklich verliebt ist, und die ihr kurzes Leben lang Opfer bleibt und unangepasst, unfähig zu sozialer Bindung.

“Diese Welt ist meine Welt, weil ich gerade hier bin. Das ist alles”, sagt die Erzählerin, aber sie beschneidet auch den Rosenbusch ihres Bruders in dem Wissen, “je stärker du ihn beschneidest, desto mehr Blüten kommen das Jahr über hervor”.
Schon bin ich wieder auf meinen eigenen undisziplinierten Wildwuchs, meine Maßlosigkeit und Verschwendung geworfen. “Otis würde sagen, das ist Maßlosigkeit vor der Katastrophe, Wissen um den Untergang…” Aber es ist keine gute Entschuldigung.

Ist der Roman “Daheim” von Judith Hermann nur ein Buch für Maßlose und Messis? Für Voyeure und Menschen, die feststecken?

Sicher nicht. Die Leichtigkeit der Sprache, die Ehrlichkeit im Wahrnehmen und Zulassen, dass Leben geschieht, dass Daheim entsteht, dass der nackte Stock dort Wurzeln schlägt, wo er in die Erde gesteckt bleiben darf und nicht hinter Grenzzäunen im Schnee erfriert und stirbt.
Vielleicht ist es nicht nur ein Buch über Entwurzelte und Gescheiterte, sondern ein Buch über Leben und über Hoffnung.”