Jürgen Corsepius hat für uns gelesen: „Das Mädchen“ von Edna O’Brien
Boko Haram, die westafrikanische Terrorgruppe? Edna O’Brien, die Grand Old Lady der irischen Literatur? Das passt nicht zusammen, dachte ich. Dieses Buch hat mich eines Besseren belehrt!
In einer April-Nacht des Jahres 2014 überfielen Mitglieder der islamistischen Splittergruppe Boko Haram – was so viel heißt wie: westliche Bildung ist Sünde – die staatliche Sekundarschule für Mädchen in Chibok/Nord-Nigeria. Eigentlich wollten sie nur die Lagerräume plündern: Zement, Ersatzteile, Benzin. Aber da war nichts zu holen. Sie konnten nicht mit leeren Händen zurückkommen, sonst würde ihr Kommandeur fuchsteufelswild werden. Mitten in das ganze Geschrei sagte einer von ihnen grinsend: „Mädchen tun’s doch auch!“ Damit war das Schicksal von 276 Mädchen im Alter von 16 bis 18 Jahren besiegelt. Sie wurden aus ihren Schlafsälen gescheucht, mussten auf Lastwagen klettern und wurden in ein verstecktes Dschungel-Camp der Terroristen entführt.
Dieses Schicksal muss Edna O’Brien im fernen Irland elektrisiert haben: Gewalt gegen Frauen ist ihr Lebensthema. Egal, wo auf der Welt sie passiert. Sie nimmt sich des unfassbaren „Stoffes“ an. Recherchiert. Reist zweimal nach Nigeria, um dort Gespräche mit Opfern und Personen aus deren Umfeld zu führen. Um Lebensbedingungen und Denkweisen der Menschen vor Ort zu erkunden. All das fließt in ihren Roman ein und macht ihn so vielschichtig und wahrhaftig. An einem Punkt ihrer Recherchen wird ihr klar, dass die einzig mögliche Erzählstrategie für dieses Buch darin bestand, die Geschichten all der vielen gleichsam durch das Medium eines einzelnen erdachten Mädchens zu erzählen. So ist die Geschichte der Ich-Erzählerin Maryam Fiktion und Tatsachenbericht in Einem. Das macht sie so besonders.
Edna O’Brien konfrontiert uns mit schockierenden Details einer langen Odyssee. Maryam wird vergewaltigt, erniedrigt und zwangsverheiratet, bringt im Terroristencamp eine Tochter zur Welt, die alles noch schwieriger macht, flieht im Chaos eines Angriffs der Regierungstruppen aus dem Lager, erleidet Entbehrung, Hunger, Angst und Verzweiflung. Aber es gibt auch immer wieder positive Momente auf dieser Odyssee: sie erlebt Hilfe, Freundschaft, Menschlichkeit und Hoffnung. Am Ende – so viel sei verraten – geht die Geschichte für Maryam und ihre kleine Tochter Babby gut aus. Zumindest den Umständen entsprechend. Zumindest fürs Erste.
Edna O’Brien verdammt niemanden. Sie erzählt „nur“. Ihre Personen sind in all ihren Facetten realistisch. Das jeweilige Urteil über sie müssen sich die Lesenden selbst bilden. Die Autorin findet für das gewaltige Spektrum an gezeigten Haltungen und Emotionen stets die richtigen Worte. Nicht eines ist zu viel. Sie hat ein präzises Gefühl dafür, wie viel sie ihren LeserInnen zumuten kann. Eine unsichtbare Grenze des Ertragbaren wird nie überschritten. Um einen Vergleich zur Malerei zu ziehen: Sie beherrscht die düsteren Linien der Expressionisten genauso souverän wie die zarten Pastelltöne der Impressionisten.
Der Lesende wird vom ersten Satz an in eine hoch dramatische, aufwühlende Geschichte hineingezogen. Er will zu jedem Zeitpunkt wissen, wie es weiter geht!
Auch wenn man am Ende erschöpft ist. So etwas gelingt nur großer Literatur.